Der Virgo-Galaxienhaufen I


Die Highlights des Virgo-Galaxienhaufens II

©Gerald Willems

 Im ersten Teil des Berichts zu den Highlights des Virgo-Galaxienhaufens hatten wir uns  bevorzugt um einige der markanteren Messier-Galaxien gekümmert. In diesem zweiten Teil soll es nun im Wesentlichen um besondere Galaxien aus dem NGC gehen.

Markanter Zentralbereich:
Wie im ersten Teil bereits angesprochen, ist das Zentrum des Virgohaufens nicht eindeutig definiert. Meist wird der Bereich um Markarians Galaxienkette als der Zentralbereich angegeben. Den Einstieg in Markarians Galaxienkette bilden die beiden elliptischen Riesengalaxien M 84 und M 86. Die Fortsetzung dieser Kette wird mit den beiden eng stehenden Galaxien NGC 4438 und NGC 4435 markiert. Auf diesen Abschnitt der Galaxienkette möchte ich zunächst die Aufmerksamkeit lenken.

 NGC 4438 und NGC 4435,
die in ihrer Konstellation wie zwei Augen erscheinen, lassen bereits in ihrem visuellen Erscheinungsbild den Schluss zu, dass beide Galaxien miteinander interagieren. Tatsächlich geht man davon aus, dass es vor etwa einhundert Millionen Jahren eine Kollision der beiden Galaxien gegeben haben muss. Dabei wurden den beiden Galaxien jeweils große Anteile an Materie entrissen. Den typischen Gezeitenschweif suchen wir allerdings vergeblich. Untersuchungen mit dem Weltraumteleskop Chandra (Abb. 1) zeigen große Mengen an heißem Gas, die besonders in der größeren NGC 4438 zu finden sind. Man geht davon aus, dass die herausgerissenen Gasanteile wieder auf die große und deutlich massereichere NGC 4438 zurückgefallen sind [1].

 Mithilfe des vier Meter großen Mayall-Teleskops auf dem Kitt Peak gelang den dortigen Forschern im Jahr 2008 eine Überraschung. Man fand 400000 Lichtjahre lange Ranken an ionisiertem Wasserstoff zwischen der elliptischen Riesengalaxie M 86 und der benachbarten Spirale NGC 4438 (Abb. 2). Auch zwischen diesen beiden unterschiedlichen Galaxien muss es eine enge Begegnung, wenn nicht sogar eine Kollision gegeben haben. Bei Kollisionen anderer kleinerer Galaxien, bei denen es zu keiner besonders großen Aufheizung der Gase  kommt, stellt man in der Regel deutliche Sternentstehung fest. Das enthaltene Gas dieser beiden Galaxien muss sich aber extrem erhitzt haben. Die Temperatur muss Größen erreicht haben, bei denen die sonst stattfindende Sternentstehung zum erliegen kam. Man geht davon aus, dass es in diesem Fall eine Kollision mit ungewöhnlich großer Geschwindigkeit gegeben haben muss. Das unterschiedliche Verhalten der in Galaxien enthaltenen Materie kann also Aufschlüsse darüber liefern, wie verschieden sich Kollisionen mit hohen oder eher geringen Geschwindigkeiten auswirken [2]. Von den beschriebenen Wasserstofffilamenten ist allerdings in einer eigenen Aufnahme des Autors derselben Region nichts zu sehen (Abb. 3). Die enorme Ausdehnung der elliptischen Riesengalaxie M 86 sieht man in dieser Aufnahme jedoch deutlich.

Drei Galaxien in Kantenlage:
Gut 2,5º westlich von M 86 begegnen wir einer seltenen Konstellation. Drei Galaxien lassen uns hier nur ihre schmale Seite sehen. NGC 4216, die mittlere Galaxie, ist sicher eine der schönsten Spiralgalaxien, die wir in dieser Region finden. Sie wird flankiert im Südwesten von NGC 4206 und im Nordosten von NGC 4222, wobei sich alle drei Galaxien auf einer nahezu geraden Linie befinden. NGC 4216 hat einen wahren Durchmesser von ca. 100000 Lichtjahren und ist damit etwa genauso groß wie unsere Milchstraße (Abb. 4).

 Man geht heute davon aus, dass NGC 4216 sich mehrere kleinere Galaxien einverleibt hat. Ein Vorgang, auf den man bei vielen großen Spiralgalaxien, wie auch bei unserer Milchstraße, schließen kann [3]. Rückstände dieser Geschehnisse sind noch immer sichtbar. Eine invertierte Abbildung mit stark gestrecktem Histogramm zeigt NGC 4216 mit einem so genannten antiken Sternstrom, der als Rest der ehemaligen einverleibten Zwerggalaxien übrig geblieben ist und sich vom südwestlichen Ende der Galaxie in ostnordöstliche Richtung hin erstreckt (Abb. 5).

 Ungleiches Pärchen:
Verlängert man die Linie der drei vorab beschriebenen Galaxien um das Vierfache in nordöstliche Richtung, stoßen wir auf ein äußerst interessantes Galaxienpärchen. NGC 4304 und NGC 4298 bilden hier eine Zweierkonstellation, wie man sie nicht oft findet (Abb. 7, 8). Die östlich gelegene NGC 4302 lässt uns genau auf ihre schmale Seite blicken. Das äquatoriale Staubband kommt dabei wirkungsvoll zur Geltung. Wie schon die vorab beschriebene NGC 4216 weist auch diese Galaxie mit ca. 97000 Lichtjahren einem ähnlichen Durchmesser auf wie unsere eigene Milchstraße [5]. Auf die westlich gelegene NGC 4298 blicken wir dagegen beinahe exakt auf die Scheibe. Ihre fein strukturierten Spiralarme sind in den Abbildungen 7 und 8 schon gut zu erkennen. Mit  einem Durchmesser von 60.000 Lichtjahren ist NGC 4298 deutlich kleiner als ihre Nachbarin östlich von ihr. Beide Galaxien weisen fast gleich große Radialgeschwindigkeiten auf, 1163 km/s für NGC 4302 und 1103 km/s für NGC 4298 [4]. Die Entfernungen werden für die beiden mit 19,2 bzw. 19,6 MPc angegeben [4]. Bei dieser engen Konstellation müssten eigentlich deutliche Auswirkungen durch Gezeiteneinflüsse bemerkbar sein. Auch eine erhöhte Sternentstehungsrate sollte durch diese enge Position zueinander zu verzeichnen sein. Im Visuellen erkennt man aber keine derartigen Erscheinungen. Der Grund dafür ist bis heute nicht erkennbar. 2007 wurden Aufnahmen im Radiowellenbereich ausgewertet, die neutralen Wasserstoff auch außerhalb der im Visuellen sichtbaren Galaxien zeigen. Bei NGC 4302 reicht ein Gezeitenschweif aus neutralem Wasserstoff weit nach Norden. Und bei NGC 4298 befindet sich ein Ausläufer neutralen Wasserstoffs im Nordwesten [6]. Dieser, im Radiowellenbereich erkennbare Wasserstoff (Abb. 9), scheint also doch auf Einflüsse hinzuweisen, die durch die enge Stellung der beiden Galaxien erklärt werden könnte.

 Die Siamesischen Zwillinge:
Übertroffen in ihrer Erscheinung werden die beiden Ungleichen nur noch von einer ähnlichen “Galaxienpaarung“. Es sind die so genannten Siamesischen Zwillinge. Mit einem großen Schwenk von etwas über 5º in südöstliche Richtung kommen wir von unserem letzten Ziel aus zu diesen Galaxienpaar. NGC 4567 und NGC 4568 stehen  hier anscheinend so eng beieinander, dass man annehmen könnte, die zwei würden sich gegenseitig durchdringen (Abb. 10, 11, 12). Auch diese beiden weisen fast identische Radialgeschwindigkeiten auf. NGC 4567 wird mit 2277 km/s und NGC 4568 mit 2258 km/s angegeben. Die Entfernungen dazu werden mit 19,96 MPc für NGC 4567 und 19,95 MPc für NGC 4568 beziffert [4].

„Da passt kaum ein Briefbogen dazwischen“, beschrieb Wolfgang Steinicke einmal diese enge Konstellation [7]. Auch bei diesem Galxienpaar sollte es eigentlich deutliche Auswirkungen durch Gravitation zu sehen geben. Man erkennt aber auch hier weder irgendwelche Gezeitenschweife noch eine erhöhte Aktivität bei der Sternentstehung. Auch Verformungen sind an beiden Galaxien nicht zu erkennen. Das Besondere ist sozusagen, dass es nichts Besonderes gibt. Und auch bei dieser Konstellation stehen die Wissenschaftler vor einem Rätsel. Bis heute konnte dieser widersprüchliche Sachverhalt nicht aufgeklärt werden.

 Bemerkenswerte Spirale:
Noch einmal 3º südlicher der Siamesischen Zwillinge soll nun zum Abschluss noch die Spirale NGC 4535 beschrieben werden (Abb. 13). Diese ausgesprochen schöne Galaxie vom Typ SBc lässt uns direkt auf ihre Scheibe blicken (face on), wobei der ausgeprägte Balken bei dieser Galaxie deutlich zu sehen ist. Auch die feine Gliederung der Spiralarme ist deutlich strukturiert und bietet viele Einzelheiten. Mit 1949 km/s [4] weist NGC 4535 eine hohe Radialgeschwindigkeit auf. Sie durchquert also mit deutlicher Geschwindigkeit den Virgohaufen. Ihre scheinbare Ausdehnung mit 7,1 x 5,0 Bogenminuten [8] lässt sie als eine der großen Mitglieder des Virgohaufens erscheinen.

 Bis heute gibt es keine bessere Methode galaktische Entfernungen zu bestimmen als die Cepheiden-Methode. In einem Hubble-Projekt ist die Entfernung dieser Galaxie mit dieser Methode auf 52 ± 3 Millionen Lichtjahre bestimmt worden [9]. Die verlässlichsten Entfernungsdaten für Mitglieder des Virgohaufens basieren zu großen Teilen auf der Messung veränderlicher Sterne, wie die schon erwähnten Cepheiden. Als zweite Methode kommt die Helligkeitsmessung von Supernovae in Frage, wobei besonders Supernovae vom Typ 1a, die als so genannte Standardkerzen Anwendung finden, die verlässlichsten Daten liefern [10].

Die teilweise hohen Differenzen der Radialgeschwindigkeiten zwischen den einzelnen Mitgliedern des Virgohaufens zeugen von der großen Dynamik innerhalb des Galaxienhaufens. Die Eigengeschwindigkeiten der Einzelgalaxien überlagern die Radialgeschwindigkeit des gesamten Haufens oft beträchtlich und machen eine Entfernungsbestimmung mit Hilfe der Rotverschiebung (Hubblekonstante) unmöglich. Betrachtet man nicht nur die Radialgeschwindigkeiten der hier vorgestellten Galaxien, sondern untersucht den gesamten Galaxienhaufen mit einer gewissen Systematik, so könnte es interessant werden, ob sich dabei Tendenzen abzeichnen, die auf eine systematische Verteilung der Geschwindigkeitsgradienten schließen lassen. Auch Vergleiche zu benachbarten größeren Galaxienhaufen könnten dabei aufschlussreich sein. Eine derartige Untersuchung würde hier und jetzt den Rahmen aber sprengen und ich möchte es als eine Aufgabe für einen späteren Artikel ankündigen.

 Jetzt, wo das Frühjahr vor der Tür steht, wird der Virgo-Galaxienhaufen wieder für viele Beobachter und Fotografen ein Ziel sein. Wenn dieser Bericht für den einen oder anderen eine Anregung für neue Aktivitäten darstellt, so wird sich die Arbeit daran gelohnt haben.

Quellen:

[1] http://chandra.harvard.edu/photo/2003/ngc4438/

[2] http://www.noao.edu/outreach/press/pr08/pr0807.html

[3] http://www.starobserver.org/ap101127.html

[4] http://simbad.u-strasbg.fr/simbad/sim-basic?Ident=NGC+4298&submit=SIMBAD+search

[5] http://www.noao.edu/outreach/aop/observers/n4298.html

[6] http://iopscience.iop.org/1538-4357/659/2/L115/pdf/21463.web.pdf

[7] http://www.klima-luft.de/steinicke/Artikel/siam_twins.pdf

[8] http://spider.seds.org/ngc/revngcic.cgi?NGC4535

[9] http://www.noao.edu/outreach/aop/observers/n4535.html

[10] http://www.weltderphysik.de/de/4245.php?ni=1733